Sonntag, 28. Januar 2007

Meine erste Fahrt zum Tanken, meine erste normale Leiche und meine erste Bahnleiche

Herbst 1993, mein erster Tag als Zivildienstleistender im Rettungsdienst. Am nächsten Morgen beginnt die theoretische Ausbildung zum Rettungssanitäter. Ich habe mich auf der Rettungswache vorgestellt, der Wachleiter hat mir die Räume und die Einsatzfahrzeuge gezeigt und mich den Kollegen vorgestellt, die an dem Tag Dienst hatten. Ich bin eingekleidet worden – auf dem reflektierenden Rückenschild prangt unübersehbar „PRAKTIKANT“.

Am frühen Nachmittag kann ich mich entscheiden, ob ich für Heute Schluss machen, oder schon mal als „Dritter Mann“ mitfahren will, falls ein Einsatz kommt. Dass ich mich für letzteres entschieden habe überrascht nicht, wenn man in Rechnung stellt, dass ich selbst heute noch ab und zu ganz gerne als Dritter irgendwo mitfahre, wenn ein Einsatz spannend zu werden verspricht. Nach einiger Zeit machen sich zwei Kollegen auf, um zum Tanken zu fahren. Tanken entsprach zwar nicht direkt meinen Vorstellungen vom ersten Einsatz, aber wer weis, vielleicht kommt auf der Fahrt zur Tanke ja „das ganz dicke Ding“. Während sich der Tank mit Diesel füllt, erklärt mir einer der Kollegen das Prozedere mit der Tankkreditkarte, Kennzeichen eingeben, Kilometerstand eingeben, PIN steht auf der Karte...
Plötzlich ertönt aus seiner Jackentasche ein grelles Piepsen gefolgt von einer etwas verrauschten Stimme „Notfalleinsatz!“
Oha, jetzt wird’s spannend. Zapfhahn raus, Tankdeckel zu, NICHT bezahlen, Türen zu, Blaulicht an und los. Meine erste Fahrt mit Wegerechten (Blaulichtfahrt) beginnt. Trotzt meiner Rolle als völlig überflüssiger Prakti fühle ich mich schon ziemlich wichtig. Das Funkgespräch der Kollegen mit der Leitstelle verstehe ich nur bruchstückhaft „eine leblose Person? In der Wohnung?“ Nach ca. zwei Minuten halten wir auf einem gepflasterten Parkplatz hinter einem Mehrfamilienhaus. Dort steht schon ein Polizeiwagen. Ich bekomme einen Notarztkoffer in die Hand gedrückt und laufe den Kollegen hinterher. Wenn ich meine Gemütsverfassung rückblickend beschreiben sollte, würde ich diese schon als ein wenig euphorisch, aber durchaus auch als leicht wirr und grenzwertig überfordert einstufen. In einer normal wirkenden Wohnung empfängt uns eine sehr aufgeregte ältere Frau „Mein Mann atmet nicht mehr“. In einem normalen, etwas unmodernen Schlafzimmer liegt ein alter Mann in einem Doppelbett. Er sieht irgendwie merkwürdig aus. Zwei Polizisten stehen am Bett. Was meine Kollegen jetzt genau machen kann ich nicht erkennen oder einordnen, jedenfalls wird das EKG angeschlossen und überraschend schnell die Diagnose Exitus Letalis gestellt. Aha, darum sieht der alte Mann so komisch aus – er ist tot. Die erste Leiche, die ich in meinem Leben gesehen habe.

Zwei Monate Später an einem sonnigen Wintervormittag. Die theoretische Ausbildung und ein Praktikum in der Anästhesie und auf der Intensivstation liegen hinter mir. Nun fahre ich einen Monat mit dem Rettungswagen (RTW) und dem Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) als Dritter mit, bevor mich die Abschlussprüfung zum Dienst als Zweiter Mann auf dem Krankentransportwagen (KTW) qualifizieren würde.
Es wird hektisch. Das NEF hat einen Einsatz bekommen, ich soll natürlich mitfahren. Für einen ungeübten stellt schon die Einsatzfahrt mit dem 200 PS starken BMW durch den auseinanderstobenden Stadtverkehr einen ziemlichen Nervenkitzel dar. Aber die Einsatzmeldung aus dem Funkgerät – das ich mittlerweile schon recht gut verstehe – lässt die Grenze zwischen gespanntem Interesse und Furcht vor dem, was mich erwartet, verschwimmen „Am Hauptbahnhof, Bahnsteig 7, Person unter Zug“. Wir steuern den Bahnhof über Wege an, die man als normaler Verkehrsteilnehmer nicht kennen lernt. Ich erkenne, dass man mit dem Auto bis direkt auf den Bahnsteig fahren kann. Erstaunlich. Bei einem Eisenbahnunfall erwartet man für gewöhnlich, dass der Bereich weiträumig abgesperrt und in ein Blaulichtgewitter von Polizei, Feuerwehr und Rettungsfahrzeugen getaucht ist. Ich stellte mir eine Menge Schaulustiger vor, die von Polizisten mühevoll zurückgehalten wird. Am Unfallort selbst sollte die Feuerwehr mit schwerem technischen Gerät zugange sein – Hebekissen füllen sich, Trennschleifer kreischen, Generatoren dröhnen. Die Besatzung des Rettungswagens hängt in unbequemer Lage zwischen Wagonwand und Bahnsteig, um notdürftig an den Überfahrenen heranzukommen, und führt heldenhaft erste Sofortmaßnahmen durch. Unter dem Zug zeigt sich ein Bild des Grauens. Schwerste Verletzungen, großflächige Ablederungen, jede Menge Blut in dem öligen Gleisbett, Amputationen, vielleicht Eröffnung von Körperhöhlen. Wohlmöglich war der Mensch sofort tot, vielleicht hängt sein Leben am seidenen Faden, hoffentlich ist er wenigstens nicht mehr bei Bewusstsein und muss nicht leiden. Nicht so in diesem Fall. Auf dem Bahnsteig stehen zwei Polizisten. Der RTW ist wider Erwarten nicht vor uns da gewesen. Auf einer Bank sitzt der alkoholkranke Uwe S., mit dem meine Kollegen wegen vieler früherer Einsätze per Du sind, und ist nicht unterm Zug sondern auf Entzug. Das ist auch eine schlimme Sache und es ist nicht verkehrt, dass ihn sich den Notarzt mal anschaut. Aber das Großaufgebot der Feuerwehr, das sich schon wieder abgesetzt hatte, konnte da nicht helfen. Jedenfalls hatte ich mich nicht nur verhört, sondern der Einsatz war wirklich aufgrund eines Missverständnisses so übermittelt worden.

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